Schwarz, ebenso Weiß und Grau, gelten in der Geschichte der Farblehren als unbunte Extreme. Die
monochrome Malerei und Zeichnung des 20. Jahrhunderts spitzt diese Sonderrolle weiter zu, sie bringt
Farbe und Bildfläche zur Deckung. Monochrome Bilder zeigen in der Regel keinen Gegenstand, sie sind
noch nicht einmal abstrakt, sie stellen nichts außerhalb ihrer eigenen Faktizität dar. Die Reduktion
ermöglicht eine konkrete ästhetische Erfahrung der Eigengesetzlichkeit des Bildes durch Materialität,
Struktur, Textur, Bildverfahren. Was geschieht, wenn diese autonome Kunst sich mit dem öffentlichen Raum
verbindet?
Reinhold Budde arbeitet seit den 1990er Jahren auf systematische Weise mit monochromen Bildverfahren in
Malerei, Lithographie und Zeichnung. Er widmet sich hauptsächlich der Farbe Schwarz bei weitest gehender
Zurücknahme der eigenen Malgeste. Die Bilder und Blätter repräsentieren nicht, sie entziehen sich der
Nachbildung von Gegenständen und sind demzufolge nur bis zu einem gewissen Grade lesbar. Die semantische
Bandbreite der Farbe Schwarz (wie Trauer, Revolte, Existenzialismus, Idealismus, das Böse, das Extreme,
die Nicht-Farbe, die liturgische Farbe, persönliche Vorliebe oder ähnliches) trifft dabei keine Aussage
über mögliche Bildinhalte. Lesbarkeit entsteht hier im Prinzip nur auf strukturellem Wege, insofern das
bildimmanente Formgesetz nachvollzogen werden kann. Im Falle der von Budde so genannten Schichtbilder
wird ebenso mechanisch wie kontemplativ, und immer von eigener Hand, Ölfarbe Zug um Zug aufgetragen, um
durchscheinendes Kolorit auf der Oberfläche schlussendlich zu einer in Schwarz gesättigten Haut zu
verdichten. An den Rändern der ungerahmten Leinwände können bunte Farbschichten sichtbar stehen bleiben.
Umgekehrt erscheint Schwarz in manchen Lithographien wie aufgelöst, denn die Zeichnung mit Lithokreide
entsteht als ein Resultat konzentrierter Längsbewegungen der Hand und wird in winzige Punkte
ausdifferenziert. Die monochrome Malerei, Lithographie und Zeichnung macht reich balancierte
Binnenstrukturen der Bilder und Blätter anschaulich und spürbar. Budde geht aber noch einen Schritt
weiter und verbindet sie mit einem Ort, einem bestimmten, öffentlich zugänglichen Ort.
Für die Plattform „Spring!“ des Bremer Kunstfrühlings 2009, zu der 49 Künstler und Künstlerinnen
eingeladen waren, schlägt Budde eine Schwärzung zweier Gleisbetten in der ehemaligen Güterhalle vor.
Er erinnert damit an eine historische Begebenheit noch vor der Entstehung des Gebäudes in der
Nachkriegszeit. Heute wird der weitläufige Komplex von Künstlern, Musikern und Theaterleuten genutzt.
Seit über 13 Jahren bereits sind Galerien, Proberäume, Ateliers, Ausstellungs- und Veranstaltungsorte
in den teils maroden Industriehallen und Kellerräumen zur Miete untergebracht. Früher wurden hier
komplette Güterzüge abgefertigt. Die sieben Bahnsteige sind mit einer Ausnahme noch intakt. Der
gleichmäßig verteilte, blendfreie Tageslichteinfall durch ein Sheddach (Sägezahndach) über die gesamte
Hallenbreite sowie der weite Blick in die 180 Meter lange und knapp 80 Meter breite Gleishalle sind für
sich genommen bereits außergewöhnliche visuelle Ereignisse.
Budde bezieht durch seine Arbeit zwei parallel verlaufende Gleisanlagen aufeinander. Die beiden
Gleisbetten können nicht überquert werden. Der Betrachter steht im 90-Grad-Winkel zu den Bahnsteigen.
Die Schwärzungen sind beide jeweils 11 Meter und 41 Zentimeter lang und schließen bündig ab. Die Breite
eines Gleisbetts misst 330 cm, ein Bahnsteig ist 150 cm hoch. Loses Kohlegranulat wird im vorderen
Schotterbett aufgeschüttet bis die Unebenheiten ausgeglichen sind und zäh haftendes Bitumen wird an
der dahinter liegenden, sichtbaren Wand aufgetragen. Bitumen und Granulate sind Abfallprodukte aus der
industriellen Verarbeitung fossilen Kohlenstoffs. Das tiefschwarz glänzende Erdpech entsteht in der
Erdölverarbeitung. Die matt schimmernden Trockengranulate fallen nach der Verbrennung im Hochofen an
und sind hygroskopisch. Ihre Farbigkeit changiert je nach Feuchtigkeit zwischen Schwarz und Schlackengrau.
Die Gleisabschnitte erschließen sich als zusammen gehörig sobald das tiefer liegende Gleisbett in das
Sichtfeld rückt. Schwarz „liegt“ auf dem Boden und „hängt“ in einem Bodeneinlass.
11.41 lässt sich wie ein Raum-Bild verstehen, das sich als ein ästhetisches Gegengewicht zur technischen
Funktionalität der Güterhalle behauptet. Desorientierung und Überwältigung, die angesichts großformatiger
monochromer Malerei oft als ästhetische Empfindungen aufgerufen werden, stellen sich hier erst in
Verbindung mit dem Umraum und mit dem Wissen um die Hintergründe des Titels ein. 11.41 benennt neben
dem Längenmaß der Schwärzungen auch den November 1941. In diesem Monat, am 18.11.1941, wurden 570
jüdische Mitbürger aus Bremen nach Minsk in ein Ghetto deportiert. Sechs von ihnen haben überlebt.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Proportion, Lage und Farbe der Arbeit die tatsächliche
Raumsituation mitdefinieren, neu interpretieren und die Betrachter zu einem aktiven Sehen und Gehen
auffordern, das vom Ort selbst mit beeinflusst wird. Der künstlerische Eingriff stellt eine Bindung
an den Ort her, die ausgehend vom dunklen Artefakt die Aufmerksamkeit für den Umgebungsraum und für
die Orientierung in diesem Raum schärft. Eine Erfahrung in Bewegung ist neben der versenkenden
Anschauung für ein Verständnis der Schwärzungen unentbehrlich.
Die Materialbeschaffenheit und deren Verarbeitung, die Positionierung in der Halle, die Reflektion
des Umgangs mit öffentlichem Raum, der Übergang von einer Eigengesetzlichkeit des Bildes zur
kontextbezogenen Selbstbehauptung einer Installation, alle diese Faktoren werden in einer konzisen
künstlerischen Haltung zusammen gebracht. Budde arbeitet mit Schwarz, um in der Reduktion des Deutbaren
ein Maximum des Konkreten zu erreichen. Das Bild, ob Zeichnung, Lithographie, Malerei oder Raum-Bild,
bewahrt sich Momente des Schweigens, gar des Widerständigen. Der Titel der Arbeit stellt einen weiteren
Sinn her: Das Raum-Bild ist auch ein Gegen-Bild zur Massendeportation im Morgengrauen. Die Zahl 11.41
erinnert an diese historische Gräueltat im öffentlichen Raum, sie verleiht der bildnerischen Schwärze
eine namenlose Kraft.