Dr. Joachim Kreibohm

VON DER WAND IN DEN RAUM

Zum Werk von Reinhold Budde

PROLOG
„Site-specific“, „in-situ“, „Ortsspezifik“ sind Begrifflichkeiten und Beschreibungen ästhetischer Strategien und Konzepte, die dem geschlossenen Werkbegriff diametral gegenüberstehen. „­Site-specific“ ist eng mit der Minimal Art verbunden. Bereits Douglas Crimp hat in seinem Aufsatz „Redifining Site Specifity“(1) diesen Aspekt überzeugend dargelegt und analysiert. Unter anderem ein frühes Werk von Richard Serra, das die Frage nach der Grenze eines Werkes beantwortet. Die mit „Splashing“ betitelte Arbeit war Teil einer von Robert Morris 1968 in New York organisierten Ausstellung in einem alten Warenhaus, das der Galerist Leo Castelli als Lager nutzte. Entlang einer Kante, wo Fußboden und Wand sich treffen, hatte Serra geschmolzenes Blei ausgegossen, das sich unregelmäßig an Wand und Fußboden verteilte. Durch die vielen Spritzer wurde die Grenze zwischen Werk und Nichtwerk diffus. Daher können die für bestimmte Orte geschaffenen Werke nur dort wirken und existieren. Der geschlossene Charakter des Werkes, seine Abgrenzung vom alltäglichen Raum galt hingegen lange Zeit als Signum der Kunst.?(2) So markiert der Rahmen die Abgrenzung des Bildes, so markiert der Sockel die Abgrenzung der Skulptur vom Raum. Längst sind in Philosophie, Soziologie und auch in der Kunstgeschichte raumbezogene Fragestellungen zu einem relevanten Thema geworden. Die Produktion von Raum ist eine besondere Form ästhetischer Sinnstiftung. Raumerfahrung wird zu einem dynamischen Prozess, der den Betrachter über Atmosphäre, Bewegung und Körperlichkeit in das Werk verwickelt.

Die Bezeichnung „Ortsspezifik“ und damit verbunden eine auf den Ausstellungsort bezogene Arbeitsweise gab es in der Kunstgeschichte in unterschiedlichen Ausprägungen schon immer. Ortsspezifisches Arbeiten entwickelte sich von der Wand in den Raum und fokussiert den Blick des Betrachters auf den jeweiligen Ort und den ihn umgebenden Kontext. Beispielsweise die Inszenierung von Piet Mondrians inzwischen abgerissenem Atelier (1921–1936, Paris, Montparnasse, Rue du Départ), El Lissitzkys Prounen-Raum (1923), Kurt Schwitters Merzbau (1923–1936/37, Hannover) und Oskar Schlemmers nicht verwirklichtes Lackkabinett (1940). Oder Gre­gor Schneiders „Totes Haus ur“, das er seit 1985 fortlaufend bearbeitet. Die Reihe „Künstlerräume“ der Weserburg, Museum für moderne Kunst in Bremen akzentuiert in unterschiedlicher Weise den Umgang mit Räumen, hingegen setzen sich die ­eingeladenen Künstler des Projekts „Passage“ im Atelierhaus ­Friesenstraße in Bremen „in situ“ mit den Räumlichkeiten des Hauses auseinander. In beide Projekte war Reinhold Budde involviert.?(3)

Dem geschlossenen Werkbegriff ist die Unabhängigkeit des Werkes von Ort und Zeit inhärent. Hingegen ist das Objekt raumbezogener Arbeit an den Ort der Präsentation gebunden und dem Markt entzogen. In den 1960er Jahren wurden die auf den Ausstellungsort bezogenen Konzepte und Strategien mit „site specific“ zum Label. Eine Kunst, die sich je nach Situation auf architektonische, funktionale sowie auf historische, soziologische und politische Aspekte des Ausstellungsortes bezog. Der Ort wurde nicht mehr als neutrales Display angesehen, sondern radikal in seiner Funktion hinterfragt.

Jedoch haben die Ausschließlichkeitspostulate der 1960er und 1970er Jahre an Relevanz verloren. Das Entweder-oder wurde von einem Sowohl-als-auch abgelöst. So verloren raumbezogene ­Strategien an Radikalität. Stattdessen verschränken sich unter­schiedliche Ansätze und beanspruchen keinen Alleinvertretungsanspruch, der zu einem Korsett wird, das die Luft zum Atmen nimmt. Allerdings ist in den 1990er Jahren ortsspezifisches Arbeiten inflatio­när geworden. Die Rauminstallation hat sich zum generellen Ausstellungsmodus der zeitgenössischen Kunst entwickelt. Auch Malerei wird inzwischen räumlich ­installiert. Gern wird eine Raumbezogenheit behauptet, aber selten radikal eingelöst. Zwar werden spezifische Eigenheiten des Ortes in die Arbeit inte­griert, die sich oftmals nur auf formale Fragestellungen beschränken. „In situ“ wurde zum Label der Überlegenheit raumbezogener Konzepte gegenüber dem Tafelbild, dem man andächtig gegenübersteht oder der Skulptur, die man umschreitet, um von ihrer Aura zu partizipieren. Weit entfernt von einem inflationären Umgang und rein formalen Fragestellun­gen hat sich Reinhold Budde nun raumbezogenen Strategien verschrieben, die präzise in bestehende Raumgefüge eingreifen. Sein Weg dahin kann als Ausbruch des Bildes von der Wand in den Raum begriffen werden.

VON DER WAND IN DEN RAUM
Stets verlangt die produzierte Kunst nach Präsentation, sucht und findet ihre Räume, seien es Galerien, Kunstvereine, Museen oder öffentliche Räume. Räume unterscheiden sich in ihrer Architektur und Geschichte. Räume sind quadratisch, rund oder rechteckig, Räume haben unterschiedliche Licht­verhältnisse, Höhen und Größen. Und Reinhold ­Budde: arbeitet er raumbezogen, sodass die Arbeiten nur in bestimmten Kontexten funktionieren oder sind seine Arbeiten autonom und können unabhängig von Raum und Zeit existieren? Will er Räume mit bereits vorhandenen Werken besetzen oder Räume gänzlich neu strukturieren?

Der Künstler hat sein Konzept, ausgehend von der Malerei, immer weiter in den Raum ausgedehnt. Seit einigen Jahren ist sein Umgang mit dem Raum ein anderer geworden. Die Arbeiten lösen sich von der Wand, dringen in den Raum oder werden ausschließlich für eine bestimmte Raumkonstellation produziert. Beispielsweise seine Ausstellungen in Bremen in der Galerie des Westens (GaDeWe), im Gerhard-Marcks-Haus, im Atelierhaus Friesenstraße sowie im Gartenpavillon des Malkasten e.V. in ­Düsseldorf und im Kunstverein Ruhr in Essen. Ebenso lässt die Ausstellung in der Kunsthalle Bremerhaven einen spezifischen Umgang mit dem Raum erkennen. Zum einen werden Arbeiten präsentiert, die auch in einem anderen Kontext gezeigt werden könnten. Zum anderen sind Arbeiten direkt auf die konkrete Situation bezogen. Reinhold Budde weiß, der Raum lässt sich nicht erobern, ohne ihn zu inszenieren. Seine bildnerischen und skulpturalen Strategien intendieren nicht nur die Besetzung des Raumes, sondern zielen darüber hinaus auf seine Transformation.

Zunächst steht die Monochromie?(4) in ihren vielfältigen Ausprägungen im Fokus seines Schaffens. Im Jahr 2006 vollzieht sich ein entscheidender Wandel zum bisherigen Werk. Weder erfolgt dieser Wandel in spektakulären Auf- und Abwärtsbewegungen noch in einem harmonischen Gleichklang. Kennzeichnend für seine Malerei ab 2006 ist die Einbeziehung der Rückseite des Trägers, die behutsame Lösung vom Tafelbild, die Erweiterung der Farbpalette. Bei den Lackarbeiten auf Aludibond wird neben der Vorderseite auch die Rückseite zum Farbträger. Diese Arbeiten sind mit leichtem Abstand zur Wand befestigt, sodass sie ihre jeweilige Farbigkeit auf die Wand reflektieren. Der Farbraum, der vorher auf der Leinwand aufgebaut wurde, hat einen neuen Platz zwischen dem Träger und der Wand gefunden und wirkt als Resonanzraum. Auch entstehen Werke, die zwischen Malerei und Objekt oszillieren, die sich von der Zweidimensionalität lösen und dem Betrachter körperhaft gegenübertreten sowie Arbeiten, die nicht mehr der Rückversicherung einer Wand bedürfen, sondern den Sprung in den Raum wagen, indem vier, sechs, acht oder mehr Profilleisten aus Aluminium als Stützen zwischen Boden und Decke aufgereiht sind.

Was waren die Gründe, die den Weg von der Wand in den Raum geebnet haben? Scheinbar alltägliche Entscheidungen haben diesen Prozess maßgeblich beeinflusst: Wie lassen sich Wohnen und Arbeiten verbinden? Die praktische Antwort auf diese Fragen war das von Budde lapidar mit „Kiste auf dem Dach“ bezeichnete Haus- und Wohnprojekt.?(5) Das OGO-Gebäude, eine ehemalige Kaffeerösterei in Bremen-Hastedt, bot ihm und weiteren Künstlern Atelierraum. Dann entstand der Wunsch, Arbeiten und Wohnen zu verbinden. Mit der Idee der „Kiste auf dem Dach“ präzisierte der Künstler sein „Konzept zur Erweiterung des Raumes“. Formal handelt es sich um eine Art Wohnbox, die nicht als organischer Baukörper in das vorhandene Gebäude integriert, sondern aufgesetzt wurde und sich deutlich von der Umgebung abhebt. Die wesentlichen Parameter seiner bisherigen künstlerischen Entwicklung werden in eine eigene Architektursprache transformiert. Zum einen ist die „Kiste auf dem Dach“ eine Architektur mit der spezifischen Funktion, Arbeiten und Wohnen zu verbinden. Zum anderen geht sein Konzept über rein architektonische Lösungen hinaus. Die Themen und Fragestellungen seiner künstlerischen Arbeit finden ihre Entsprechung in der Architektur. Die „Kiste auf dem Dach“ öffnet die Tür zu Weiterentwicklungen und neuen Strategien, macht den Schritt in die Dreidimensionalität und in den realen Raum plausibel.

„Wie kann ich meine Arbeiten von der Wand befreien und mit dem Raum verbinden?“ wurde zur zentralen Fragestellung. Eine Vielzahl von Entscheidungen eröffnet ein Spiel mit den räumlichen Gegebenheiten: Was soll verändert werden, was soll belassen werden wie es ist, soll gegen den Raum oder mit dem Raum gearbeitet werden? Budde arbeitet in situ, arbeitet stets mit den räumlichen Vorgaben, Maßen und Proportionen des Ausstellungsortes. Allerdings werden die Räume, auf die sich seine Arbeiten beziehen, nicht nur in ihrer spezifischen Architektur betrachtet. Soziale, repräsentative und historische Funktionen sind ebenso von Interesse.

Die Vorbereitungen für die Auseinandersetzung mit dem Ausstellungsraum haben sich zu einem festen Prinzip entwickelt. Die Entwicklung seiner Konzepte beruht auf der physischen Begegnung mit der vorgefundenen Architektur. Der Raum wird ausgemessen, fotografiert, Grundrisse angefertigt, die Umgebung erkundet, anschließend ein Modell des Raumes gebaut, das als Denkmodell dient und die Ausstellung modellhaft inszeniert. Pläne werden überprüft, umgestoßen, neu konzipiert. So entwickelt der Künstler für die jeweiligen Räume ein Gesamtkonzept. Aber letztendlich fallen die endgültigen Entscheidungen vor Ort – eben in situ.

PLATTFORM
Seine Ausstellung in der Kunsthalle Bremerhaven ist mit „Plattform“ betitelt. Wie so oft, bietet der Titel die Möglichkeit sich dem Werk zu nähern und es zu versprachlichen. „Plattform“ bezieht sich auf Veränderungen der Empore. Im großen Ausstellungsraum der Kunsthalle ist die Empore stets Blickfang und eine große Herausforderung für die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler, diese thematisch und als besonderen Präsentationsort einzubeziehen. Der Umgang mit ihr ist höchst divergent: Mal wird sie ignoriert, mal ist sie Stell- oder Hängefläche, mal dient sie skulpturalen Eingriffen und Interventionen.?(6)

Für Reinhold Budde wird die Empore unmittelbar zum Ausgangspunkt eines ästhetischen Kommentars. Acht weiß lackierte Profilleisten aus Aluminium fungieren als Stützen und scheinen die Empore zu tragen. Die Farbe der Leisten ist mit der Farbe des Treppengeländers identisch, sie scheinen zum tragenden Element zu werden, nützliche Eigenschaften zu besitzen, halten aber an ihren skulpturalen Eigenschaften fest. Schlussendlich bleibt ihre Funktion rätselhaft, der Betrachter befindet sich in einem Raum des Unbestimmbaren. Stets zielen seine Interventionen auf die Veränderung der vorgefundenen Situation, lassen unterschiedliche Leseweisen zu und öffnen Assoziations- und Denkräume. Durch den mit großer Präzision ausgeführten Eingriff bekommt die Empore eine weitere Bedeutungsebene. Erinnerungen an Pfahlbauten an der Nordsee, Ölplattformen, Aussichtsplattformen stellen sich ein. Referenzen, die sich zwar nicht unmittelbar aufdrängen, aber dennoch wirksam sind.

Der mit Teppich ausgelegte Boden der Empore ist nun mit Spiegeln bedeckt. Der Spiegel ist aus silbrigem Dekomaterial, aus Polystyrol, die Rückseite ist selbstklebend. Als Unterlage dienen 21 Spanplatten, die seitlich geschlitzt und mit kleinen Holzplättchen zusammengesteckt sind. Diese begehbare Spiegelung interagiert mit dem Umraum, reflektiert nicht nur die Konstruktion der Decke, sondern auch den Betrachter in seiner Körperlichkeit. So wird der Betrachter als Betrachter ausgestellt und subtil in das Ausstellungskonzept einbezogen. Die Spiegel übernehmen die Rolle eines Selfies und verweisen auf die ständige Auseinandersetzung der Gesellschaft mit sich selbst.

Der Blick von der Empore in den Raum wird magisch von einer Wandarbeit angezogen. Die Arbeit nimmt die Maße der Empore auf. Die Wandfläche ist geschwärzt und davor eine durchlässige schwarze Filamentmatte befestigt. Durch die mit leichtem Abstand von der Wand befestigte Matte erhält die Arbeit eine Tiefe, findet den Weg in den Raum und in die Dreidimensionalität. Filament ist ein Industrieprodukt und wird zur Befestigung von Deichen und Bepflanzung von Hängen benutzt. Hier wird die Matte zum Kunstobjekt. Budde ist in der Stadt am Wasser mit ihren Häfen, Containern und Deichen fündig geworden, hat Material gefunden, das seiner Arbeitsweise entspricht. Verschrän­kungen finden zwischen Innen und Außen statt. Über das gewählte Material stellt sich ein Bezug zur außerbildlichen Realität her. Er reagiert pointiert auf das städtische Umfeld, seine Interventionen öffnen sich anderen Bereichen gesellschaftlicher Wirklichkeit und relativieren die Hermeneutik selbstreferen­tieller Strategien und Konzepte. Als Gegenpol zur Flächigkeit der schwarzen Wand ist gegenüber auf dem Boden ein Stapel Papier platziert, der am Kopf geleimt zum Block wird: 100 Blatt gelb durchgefärbter Fotokarton. Klassische Materialien der Malerei wie Leinwand, Keilrahmen und Pinsel kommen nicht zum Einsatz. Der monochrome Block ist Bild und gleichermaßen Skulptur, Farbe zeigt sich skulptural. Einerseits stellt diese Arbeit nichts dar, bildet nichts ab, verweist auf sich selbst, will nur sein. Andererseits ist sie Aggregat von Gedanken und Empfindungen und lädt den Betrachter ein, über die Bedingungen und Möglichkeiten von Malerei zu reflektieren.

Das Foyer verbindet den großen Ausstellungsraum mit dem Grafischen Kabinett, hat vielerlei Funktionen, ist gleichermaßen Durchgang und Barriere für die Besucher, Ort der Kommunikation und last but not least ein Ort für die Kunst. Dieser Raum bietet sich fast von selbst für die Präsentation von Malerei an. Bei der gezeigten Werkgruppe – Lack auf Holzkörper – bevorzugt Reinhold Budde den Handauftrag. Lack ist in mehreren Schichten mit dem Pinsel aufgetragen und anschließend von Hand poliert. Die Arbeiten entstehen in stetigem Auftrag immer neuer Farbschichten, so ist ihnen Zeit eingeschrieben. Die Seiten des Holzkörpers sind mit weißer Wandfarbe gestrichen. Reminiszenzen stellen sich ein: Diese Arbeiten erinnern an Farbmalerei, treten dem Betrachter jedoch nicht in der klassischen Form des Tafelbildes, sondern objekthaft gegenüber. Budde verweist hier auf seine Herkunft aus der Malerei, zugleich wird der Rollenwechsel vom Bild zum Objekt manifest. Eine Werkgruppe, die bereits den Schritt in den realen Raum andeutet.

In mehrfacher Weise fungiert das Foyer als Klammer. Dieser Raum zielt auf die Ursprünge seiner Kunst und zugleich auf deren Ablösungsprozess. Veränderungen, die sich gleichermaßen als Bruch und Kontinuität, als Distanz und Affinität erweisen. Derzeit entsteht Malerei nur noch im Zusammenhang mit der Arbeit in einer Ausstellung. Monochrome Flächen kommen in unterschiedlicher Materialität zur Erscheinung. Mal als gelb gefärbter Block aus Fotokarton, mal als roter Vorhang aus Bühnenmolton, mal als tiefschwarze Filamentmatte. Die Monochromie ist der Ariadnefaden dieser Elemente. Budde verzichtet auf das klassische Material der Malerei, so sind diese Arbeiten als Fortsetzung der Malerei mit anderen Mitteln zu deuten. Paradoxien machen auf sich aufmerksam: Zum einen löst sich Budde von den klassischen Ansätzen der Farbmalerei. Zum anderen findet er für die nach wie vor bevorzugte Monochromie neue Formen und bringt sie lapidar zur Geltung.

Reinhold Budde hat vor dem Garderobeneinbau einen Vorhang aus verschiebbaren roten Moltonflächen befestigt. Möglicherweise haben die Besucher die Veränderungen im Zwischenflur zum Grafischen Kabinett gar nicht bemerkt. Diejenigen, die genauer hinschauen, sind zunächst irritiert. Wird nun durch diesen Eingriff der Garderobe ihre eigentliche Funktion genommen, wird die Garderobe zu einem Kunstwerk, wo das Postulat „don‘t touch“ gilt oder ist sie noch Garderobe? Die von Budde entwickelten Szenarien bieten keine schlüssige Orientierung, der Betrachter bleibt in der Situation des Ungefähren. Sein normaler Bewegungsablauf wird gestört, ohne jedoch jegliche Handlungsoption auszuschließen. Ihrer ursprünglichen Funktion entkleidet erfährt die Garderobe einen Bedeutungswandel und eröffnet eine imaginäre Ebene. Vorhänge verhüllen, verdecken die Sicht auf etwas, was dahinter liegt, trennen den Raum in ein Davor und ein Dahinter. Gewissheiten unserer alltäglichen Wahrnehmungspraxis werden in Frage gestellt. Auch hier gelingt es, die klassischen Erwartungshaltungen gegenüber monochromer Malerei zu unterlaufen. Gegenüber der Garderobe ist in Augenhöhe eine 240 cm lange Profilleiste aus Aluminium befestigt. Die Ober- und Unteransicht zeigen das rohe Industriematerial. Die Vorderansicht ist aufpoliert, sodass sich der Besucher im Vorbeigehen spiegelt und wiederum Bestandteil der Ausstellung wird.

Das grafische Kabinett, der hintere kleinere Raum der Kunsthalle, fällt durch ein gediegenes Interieur auf, das bereits in die Jahre gekommen ist: Teppichboden, holzvertäfelte braune Wände, eine gestylte Holztreppe, die zur Bibliothek führt, deren Stufen versetzt sind. Ebenso hat der längst entfernte Grafikschrank seine Spuren hinterlassen. Dennoch oder gerade deshalb hat dieser Raum seinen Reiz. Budde hat eigens dafür eine Stellage aus Buchenholzleisten gebaut, um darauf Material zu lagern, das anderenorts bereits Verwendung fand. Er favorisiert einen spielerischen Umgang mit der Situation, arbeitet weder mit noch gegen den Raum, spiegelt weder unmittelbar die Architektur des Raumes noch verzichtet er auf Gestaltung. So bleibt die Stellage Fragment, ohne gänzlich auf einen Kunststatus zu verzichten.

Die auf der Stellage liegenden Aluminiumprofile können als Hinweis auf seine Arbeitsweise gelesen werden. Die Arbeit im grafischen Kabinett oszilliert zwischen Kunst und Design, dockt an die Fragestellung „Kann Kunst nützlich sein?“ des zeitgenössischen Diskurses an, relativiert das Autonomiepostulat des Minimalismus, ohne sich dem Nützlichkeits- und Schönheitsdiktum des Design zu unterwerfen. Ambivalenzen stellen sich ein: Die „Stellage“ scheint gleichermaßen Kunst- und Gebrauchsgegenstand zu sein. Kunstgegenstände irritieren und befremden, hingegen sind uns Gebrauchsgegenstände vertraut, im Reich der Nützlichkeit fühlen sich die Dinge heimisch. Kunst und Design stehen sich nicht feindlich gegenüber und sind keinen Hierarchien unterworfen.

Die Arbeit öffnet sich in ihrer visuellen Erscheinung dem Design, tritt dem Betrachter allerdings fragmentarisch gegenüber. Ebenso fungiert die Arbeit als eine Art Archiv zur Zwischenlagerung von ­Material, hat also nützlichen Charakter. Zwar kommen seine bevorzugten Materialien wie Profilleisten, Balken, Stoffe und Folien häufig zum Einsatz, aber in der konkreten Anwendung und Ausgestaltung unterscheidet sich eine Ausstellung radikal von der anderen. Mitunter wird nach Ende einer Ausstellung das verwendete Material in Einzelteile zerlegt, kann in einem anderen Kontext wieder eingesetzt und wiederum zu einer eigenständigen Arbeit werden. Keineswegs kommt hier ein schematischer Umgang mit einem Materialpool zum Tragen, der beliebig einsetzbar wäre.?(7)

RESÜMEE
Reinhold Budde geht mit den zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten in unterschiedlichster Weise um. Einerseits werden Räume mit vorhandenen Arbeiten besetzt, andererseits werden Räume regelrecht Transformationsprozessen unterworfen. Seine mit handwerklicher Präzision ausgeführten Raumeingriffe sind in der Lage, ihre Umgebung neu zu strukturieren und in die Bewegungsabläufe der Besucher einzugreifen. Sein Umgang mit der jeweiligen Ausstellungssituation ist sowohl vom bildnerischen als auch vom skulpturalen Denken geprägt. Budde erweist sich als Grenzgänger zwischen den Gattungen. Die üblichen kategorialen Gewohnheiten, nach denen wir die Kunst gern in disparate Diszi­plinen einteilen, scheitern. Seine Arbeiten entziehen sich einem eindeutigen Zugriff, denn er arbeitet mit monochromen Flächen, gestaltet Objekte und schafft räumliche Situationen. Gekonnt verschränken sich Malerei, Installation, Skulptur und Design.

Seine prägnanten Rauminszenierungen entfalten Präsenz wie suggestive Wirkung. Raumerlebnisse werden zu einer ästhetischen Erfahrung. Diese Arbeiten bieten ein komplexes Spiel von Wahrnehmungsangeboten, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die frei von jeglicher Attitüde ist. Der Betrachter wird zum performativen Bestandteil der Inszenierung, kann beim Durchschreiten des Ausstellungsparcours den Raum anders sehen und begreifen. Man muss sich im Raum bewegen, um das Werk zu erleben, die körperliche Erfahrung wird wesentlich. Die Eingriffe sind nicht isoliert zu betrachten, sondern werden erst in Relation zum räumlichen Kontext erlebbar. Stets kommen unterschiedliche ­Referenzen und Bezüge zum Tragen, seien es Kunstgeschichte, Architektur oder Design. So weisen seine Interventionen über den real erfahrenen Raum und über eine reine Wahrnehmungsästhetik hinaus. Die Arbeit zielt auf Verdichtungen – Verdichtungen von Paradoxien, Atmosphären und räumlichen Situationen. Reinhold Budde beherrscht den schmalen Grat von formaler Reduktion und sinnlicher Inszenierung, von Selbstreflexion und inhaltlicher Aufladung. Eine Verzahnung scheinbar widersprüchlicher Elemente findet statt.

(1) Vgl. Douglas Crimp: „Redifining Site Specifity“. In: Rosalind Krauss (Hrsg.): Richard Serra / Sculpture. Museum of Modern Art, New York 1986.

(2) Ortega y Gasset reflektiert das Thema der Grenze als konstitutives Element für das Kunstwerk in seinem Aufsatz „Meditation über den Rahmen“ (Meditación del marco 1921). Für den spanischen Philosophen ist ein Bild oder ein Kunstwerk immer eine imaginäre Insel, die von der Wirklichkeit umbrandet ist. Der Rahmen wird benötigt für die gezielte Wahrnehmung der realen Umgebung und derjenigen des Bildes. Vgl. José Ortega y Gasset: Meditation über den Rahmen. In: Helene Weyl (Hrsg.): José Ortega y Gasset. Über die Liebe. Stuttgart, München, 2002.

(3) Die Reihe „Künstlerräume“ ist ein Ausstellungsformat der Weserburg, Museum für moderne Kunst in Bremen, das 2017 zum vierten Mal präsentiert wurde. Auf der zum großen Teil labyrinthisch angelegten ersten Etage der Weserburg stellen Künstlerinnen und Künstler ihre Werke und Konzepte zur Debatte. Gezeigt werden Malerei, Skulptur, Foto-, Video- und Textarbeiten. Das von Wolfgang Michael und Marion Bertram kuratierte Projekt „Passage“ (2016) ermöglichte Reinhold Budde, ­Philipp Poell und Michael Rieken „in situ“ ihre Arbeit mit und für die Räumlichkeiten des Atelierhauses Friesen­straße zu entwickeln. Zum Projekt erschien eine Publika­tion: ­­„3 Künstler – 3 Raumkonzepte“, Hrsg. Wolfgang Michael/Marion Bertram, Bremen.

(4) Eine Malerei, bei der Farbe das allein konstituierende Element ist. Diese Malerei thematisiert sich selbst durch Konzentration auf die Farbe. Alle Ebenen des Bildes werden aus der Farbe heraus gestaltet. Die vielfältige Skala der Farbeigenschaften, die sich über verschiedenartige Tiefenwirkungen bis zur Transparenz und Vibrationsfähigkeit erstreckt, ist Artikulationsfeld der Malerei. In der Farbe vergewissert sich die Malerei ihrer selbst.

(5) Vgl. Kathrin Hager: „Die Kiste auf dem Dach“, (Projekt „OGO“), 2010, limitierter Privatdruck.

(6) Beispielsweise hat Marcel Hiller in seiner Ausstellung „Im Schatten der Nacht staucht die Stufe den Fuß in meinen Le Coq Sportif“ (2014) der Treppe ihre ursprüngliche Funktion genommen: Stufenlos tritt sie dem Betrachter gegenüber, das Geländer ist teilweise demontiert. Axel Lieber wählte für seine Ausstellung den Titel „Elvis, Bremerhaven und ich“ (2002). Die Treppe war mit blauem Denim umhüllt und wirkte wie eine übergroße Jeans. Der wohl bekannteste Rekrut der amerikanischen Streitkräfte, Elvis Presley, kam am 1. Oktober 1958 auf dem Truppentransporter „General Randall“ in Bremerhaven an.

(7) Die in Buddes Installation „To Palermo“ im Pavillon des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen eingesetzten zwei roten Balken erhalten in der Ausstellung „Pergola“ einen Bedeutungswandel, sie werden wiederum zum Artefakt und bilden das Gegengewicht zur dominanten Treppe im Eingangsbereich des Atelierhauses Friesenstraße.

zum Seitenanfang

REINHOLD BUDDE | TEXTE

ZURÜCK ZU TEXTE