Dr. Arie Hartog

TO PALERMO

Reinhold Buddes Arbeit im Pavillon
des Gerhard-Marcks-Hauses

I
Reinhold Budde dringt mit seinen neueren Arbeiten Schritt für Schritt in den Raum hinein. Als Maler hat er den Bildraum und die Wirkung eines Bildes an, auf und vor der Wand untersucht. In der Arbeit „To Palermo“ im Pavillon des Gerhard-Marcks-Hauses besetzt er mit drei präzisen Eingriffen den gesamten Innenraum des kleinen Gebäudes. Die Setzung von Farben und architektonischen Elementen aktiviert die Bewegung im Raum, oder besser: Nur wer sich im Raum bewegt, kann das Werk erleben: Ein weißer Balken mit vertikalen schwarz lackierten Ständern wurde in der Mitte des Raumes quer über den Kehlbalken gelegt, der über der Tür in den Raum hineinläuft. Damit wurde der Raum in zwei Hälften geteilt. Die schwarz lackierten dünnen Stützen rahmen enge Durchgänge zur hinteren Hälfte des Raums. Die Rückseite des neuen Querbalkens wurde rot bemalt und spätestens aus der Perspektive, aus der ein Betrachter diese Farbe sieht, bemerkt er auch, dass ein Teil eines dreieckigen Wandstücks über der Tür gelb gestrichen wurde. Es gibt eine Position im Raum, in dem sich diese drei Teile zu einem „Bild“ verbinden: Ein gelbes Dreieck mit einer dicken horizontalen roten und einer dünnen vertikalen schwarzen Linie.
Die drei Farben markieren drei räumliche Zonen. Durch die Tür sieht man die schwarzen Ständer, im Raum nimmt man möglicherweise das gelbe Dreieck über sich wahr und sobald ein Betrachter zwischen den schwarzen Stützen durchgegangen ist und sich umdreht, sieht er auch die dritte Farbe. Dabei ist die beschriebene Position mit dem einen Bild keineswegs zwingend, sondern eine Möglichkeit.
„To Palermo“ kommt wie eine Hommage daher. Einzelne Elemente der Arbeit, wie die drei Farben, eine Dreiecksform über einer Tür oder die Vertikalen am Querbalken, erinnern direkt an berühmte Arbeiten von Blinky Palermo (1943 – 1977). Budde scheint zu zitieren, wobei diese Zitate weniger dominant sind als die skizzierte Raumerfahrung. Einzeln herausgelöst könnte ihnen aber durchaus eine übertriebene Bedeutung zukommen, so dass sich im Hinweis auf Palermo auch eine von dessen wenigen theoretischen Äußerungen über seine Räume verbirgt: Wahrnehmen könne man sie nur vor Ort.

II
Wer zitiert, provoziert Vergleiche. Budde setzt Signalfarben ein, die bei Palermo in anderen Zusammenhängen auf­tauchen. Während Palermo Signalfarben auf seinen späten Metallbildern und bei den bemalten Glasplatten im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig 1976 benutzte, setzt Budde sie ein um Architektur zu markieren. Palermo nutzte bei seinen Wandbildern und -zeichnungen viel weniger kräftige Farben oder in einem umgekehrten Fall mit ochsenblutroter Farbe ein komplettes im Raum stehendes vorhandenes Wandelelement (Hamburger Kunstverein, 1973), das gerade dadurch zu einer Skulptur wurde. Das heißt, Budde setzt mit seinen Zitaten andere Akzente.
Palermo konnte noch darauf vertrauen, dass die Wände in den von ihm manipulierten Räumen grundsätzlich weiß waren, so dass auch ein Strich Wirkung haben konnte. Budde weiß dagegen, dass gegen eine heute bunte Ausstellungspraxis nur klare Signale sich behaupten können und nutzt dafür konnotierte Farben. In „To Palermo“ markieren die Signalfarben, dass es hier um Malerei geht. Um heute mit minimalen Mitteln einen Raum erlebbar zu machen, müssen diese auffallen. Dabei geht es Budde offensichtlich darum, eine Grundidee der Kunst um 1970, die körperliche Erfahrung von Raum, unter heutigen Bedingungen zu zeigen und zu erforschen. Reinhold Budde macht einen Raum sichtbar und stellt sich über den Titel bewusst in eine bestimmte Tradition.

III
In der Kunstgeschichte taucht für die amerikanische Minimal Art der 1960er- und frühen 1970er-Jahre manchmal der Begriff „radicalized painting“ auf. Damit wird erstens eine logische Bewegung von der Fläche in den Raum hinein beschrieben und zweitens, dass viele Künstler, die in diesen Jahren den Raum erforschten, ursprünglich Maler waren. Viel wichtiger ist aber eine dritte Tatsache: Das Gemälde hatte im Verlauf der modernen Kunstgeschichte seine auf Illusion zielenden Funktionen verloren und ist immer stärker als ein Objekt wahrgenommen worden. Wie unterscheidet es sich dann von einem anderen Objekt? Durch die Platzierung im Raum? Durch bloße Konvention? Clement Greenberg schien bereits 1962 den Endpunkt beschrieben zu haben, als er darauf hinwies, dass eine leere Leinwand ein Bild sein konnte. Indem die Generation der Minimalisten diese Frage umdrehte und nicht das „Bild“, sondern das „Ding“ thematisierte schuf sie einen produktiven Ausweg aus dieser scheinbaren Sackgasse. Nicht was im Bild geschah (es konnte ja nur Leinwand sein), sondern was mit diesem Ding in der Wahrnehmung durch Menschen geschah, wurde diskutiert.
Indem Blinky Palermo zusammengenähte bunte Stoffbahnen auf Keilrahmen montierte, zeigte er einen anderen Ausweg. Diese Strategie entsprach nicht den fundamentalistischen und rigiden Debatten in den amerikanischen Zeitschriften. Aber über die Farben und ihre kulturellen Bedeutungen (Mode und Signale) zeigte er, dass auch unter veränderten Umständen Malerei möglich ist. Das gilt auch heute noch.

IV
Hinter der amerikanischen Debatte verbarg sich ein stark ­nationalistischer Impuls. Es ging darum, die US-amerikanische Kunst von europäischen Einflüssen zu befreien und gerade die rigide Terminologie und Logik dienten diesem ­Exorzismus. Mit großer intellektueller Schärfe reduzierten die Künstler die Kunst auf das sogenannte phänomenologische Dreieck von Objekt, Betrachter und Raum. Und während das Objekt immer stärker reduziert wurde, offenbarten sich mit Raum und Betrachter die beiden großen Unbekannten. Minimale Objekte führen bei Betrachtern immer noch zu maximalen Interpretationen, so dass die berühmte Selbst­ver­gewisserung der Minimalisten „a box is a box is a box“ daran scheiterte, dass eine Box nun mal auch ein Behälter von potenziellen Inhalten ist. Der Raum dagegen, das dritte Element des Dreiecks, schien eine Zwischen­position ein­zunehmen. Er ist nicht beherrschbar wie das Objekt und auch nicht völlig unbeherrschbar, wie der Betrachter. ­Während die moderne Bildhauerei den Raum durch die Gegen­überstellung von zwei Körpern (Kunstwerk und Betrachter) thema­tisierte, öffneten die Minimalisten durch ihre Problematisierung des erst­genannten Körpers neue Perspektiven auf den Raum.
Dabei erwies sich ihre Methode als eine sehr effektive Strategie: Im ersten Schritt reduziert der Künstler die Parameter seiner künstlerischen Sprache. Im zweiten Schritt kontrolliert und manipuliert er diese wenigen Parameter und beeinflusst damit gezielt die Situation der Wahrnehmung, vor allem den Raum und (etwas weniger kontrolliert) die Betrachter.
Die Präzision der amerikanischen Debatten hat das Denken über Kunst und Raum entscheidend geprägt. Die Konsequenz dieser Debatten schien zu sein, dass Medienunterschiede verschwanden, da alles Objekt sein konnte. Blinky Palermo ist der Künstler, der diese scheinbare Negation positiv umdrehte. Die Frage, ob Malerei irgendwann obsolet werde, wurde von ihm produktiv verneint, indem er zeigte, wie unter den Bedingungen von Design, Objektkunst und Popart (fast schon altmodische) abstrakte Malerei möglich war. Die ­Tradition des Minimalismus scheint eine Tradition der Negation zu sein. So wird sie immer noch wahrgenommen. Die rigide Logik scheint vor allem rigide. Blinky Palermo steht dagegen für einen möglichen Ausweg aus der Negation. Dabei geht es vor allem darum, dass minimale Eingriffe maximal Bedeutung haben dürfen. Diese grundsätzliche Offenheit ist die Tradition Palermos.

V
Die drei Farben gelb, rot und schwarz, die Palermo 1976 und 1977 in einigen Hauptwerken benutzte, markieren seine Position zwischen zwei Kulturen. Einerseits erinnern sie an die Fahne der Bundesrepublik, andererseits sahen schon die amerikanischen Zeitgenossen darin auch Palermos Rezeption von indianischen Farbmustern. Und während die amerikanischen Kollegen eine solche Mehrdeutigkeit bannen wollten, ist sie heute ein wesentlicher Grund für Palermos Ruhm.
Dabei scheint es wichtig zu verstehen, dass Palermos Werk keine bloße Reaktion auf minimale Positionen war, sondern gleichzeitig entstand. Die Frage nach Objekt, Raum und Betrachter ließ sich also auch anders beantworten, genauso wie auch die Frage nach der leeren Leinwand keineswegs Alternativen ausschloss.
Wer so über Palermos kunsthistorische Position nachdenkt, versteht, dass Reinhold Budde mit dem Hinweis auf den anderen Künstler ständig daran erinnert, dass nicht Reduktion, Negation oder Installation, sondern Erfahrung und Malerei im Zentrum der eigenen Arbeit stehen.

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REINHOLD BUDDE | TEXTE

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