"Kiste auf dem Dach" nennt Reinhold Budde sein außergewöhnliches Haus- und
Wohnprojekt - ungewöhnlich zunächst aufgrund der Lage. Der Wohnwürfel befindet sich auf dem Dach der
ehemaligen Kaffeerösterei "Ogo" in Bremen-Hastedt, in unmittelbarer Nachbarschaft zum dortigen, den
Stadtteil optisch stark dominierenden Kraftwerk.
Form und Lage des Hauses werfen Fragen auf: was bewegte den Künstler Reinhold Budde dazu, eine Wohnbox
auf ein Dach zu bauen? Was reizte ihn an diesem prägnanten Ort?
Diese Annäherung soll Antworten geben.
Bremens Industrie- und Gewerbegebiete, zu denen das Viertel um die Hastedter Föhrenstraße zählt, waren
und sind von Restrukturierungsmaßnahmen betroffen, die nahezu allen Industriegebieten gravierende
Umbrüche oder Umnutzungen bescherten, die von Hafenwirtschaft abhängig waren. Typischerweise werden
die betroffenen Quartiere zumeist von Pionieren besetzt und besiedelt, die einem speziellen sozialen
Milieu angehören: Künstler, Musiker oder Gestalter, insgesamt Vertreter der kreativen Sparten, denen
Raum im Umbruch ein idealer Nährboden für ihr kreatives Schaffen darstellt und denen zugleich günstiger
Raum willkommen ist. Die Besiedlung oder Restrukturierung nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienender
Gebäude, städtischer Areale oder ganzer Stadtteile ist ein Phänomen, das die Metropolen der
Industrienationen der postindustriellen Zeit rund um den Globus betrifft. Vor allem die Hafenstädte
sind diesen immensen Umbrüchen ausgesetzt, da sie die Dynamiken sich verändernder Märkte besonders
deutlich spüren. Sie entwickeln sich häufig als Experimentierfeld für unkonventionelle Wohnformen und
experimentelle Architektur. Herausragende Beispiele sind die London-Docklands der 1990er Jahre, der
Rotterdamer Hafen oder aktuell auch die Hamburger Speicherstadt.
Ursprünglich bot das ehemalige Ogo-Gebäude Reinhold Budde Atelierraum, bis sich mit der Zeit - unter
dem Eindruck des besonderen Ortes - der Wunsch verfestigte, dort auch wohnen zu wollen. Aufgrund der
Lage des Ateliers im 2. Stock, direkt unter dem Flachdach, war die Idee zur Erweiterung der vorhandenen
Fläche um den benötigten Wohnraum schnell geboren: Ein Dachaufbau war die Lösung und stellte zugleich
eine gestalterische Herausforderung für den Bauherren dar, die er von da an konsequent verfolgte. Die
statischen und vertraglichen Vorraussetzungen für die Erschließung des Daches als Wohn- und Lebensraum
waren gegeben und so begann der Planungsprozess. Mit der Idee einer "Kiste auf dem Dach" präzisierte
Reinhold Budde sein Konzept zur Erweiterung des Raumes. In dem Architekten Uwe Lamping fand Reinhold
Budde den Partner, mit dem er die von ihm konzipierte Idee umsetzen konnte. Vom Sommer bis zum Herbst
2008 dauerte die Bauphase.
Formal handelt es sich um eine Art Wohnbox, einen würfelförmigen eingeschossigen Bau mit Flachdach, der
auf dem Dach des in 3 bzw. 4 Stockwerke höhengestaffelten und mit rotem Backstein verblendeten Zweckbaus
der 1950er Jahre seinen "Baugrund" gefunden hat. Die Box ist nicht als organischer Baukörper in das
vorhandene Gebäude eingegliedert, sondern additiv aufgesetzt und hebt sich von außen betrachtet durch
Form und Materialität deutlich von der Umgebung ab. Die Kiste kontrastiert zum dumpfen roten Backstein
des Untergebäudes mit der glänzend schwarzen Außenhaut einer Stahlwelle.
Zugang zur Box erhält man durch den darunter liegenden Teil der Atelierwohnung.
Als ersten Raum des Buddeschen Wohnensembles betritt man das Atelier, einen großen, durchstrukturierten
Arbeitsraum. Vorherrschend ist die Farbe schwarz, das zentrale Thema in Buddes künstlerischem Schaffen
(1). Der Fußbodenbelag besteht hier, wie in der ganzen Wohnung durchgängig, aus schwarzem Linoleum.
An das Atelier schließen sich die Wohnräume an, fast alle Räume dieser Ebene sind nach Süden gerichtet.
Von den Fenstern aus blickt man auf das gegenüberliegende Kraftwerk.
Der Weg zur 2. Ebene der Wohnung - zur Box - führt von der sich dem Atelier anschließenden Wohnküche aus
über eine Treppe, die durch ihre Einpassung in einen eigenen Treppenraum eine besondere Raumwirkung
erzeugt. Dazu trägt zum einen die Materialität bei: geölte Buche, umrahmt von glatt verputzten weißen
Wänden und die beeindruckende Raumhöhe des Treppenraumes, der sich über beide Etagen erstreckt und den
Blick je nach Standpunkt sowohl von unten nach oben als auch in umgekehrter Richtung stark fokussiert.
Zum anderen ist es die minimal von der DIN-Norm abweichende Stufenhöhe und -tiefe, die eine leichte
Irritation auslöst. Der Treppenraum ist nicht mittelachsig am oberen Raum ausgerichtet, sodass man
sich oben entweder in einen großen Wohnbereich nach links oder einen kleineren Arbeitsbereich nach
rechts wenden kann. Beide Bereiche sind offen gehalten, es gibt keine Türen. Der von außen gewonnene
Eindruck des Aufgesetzten bzw. Additiven ist hier überhaupt nicht spürbar, das Gegenteil ist der Fall.
Der rund 40 qm große Aufbau fügt sich harmonisch und konsequent der Raumorganisation an. Auf dieser
Ebene öffnen raumhohe (= 3 Meter hohe) Schiebetürelemente und Fenster den Bau zu einer Holzterrasse
in Richtung Süden. Ein wesentlicher Reiz der Box eröffnet sich erst hier: die Aussicht auf die Weser,
die in einem großen Bogen am Hastedter Hafen vorbeifließt.
Die Konstruktion des Tragwerks der Box erfolgte in Holzständerbauweise, die mit Isolierschichten im
Sandwichverfahren und einer Stahlwelle verkleidet wurde. Mit der Lackierung der Metallelemente der
Außenhaut - Stahlwelle, Fenster und Jalousien - im Farbton RAL 9005, tiefschwarz, begegnet man erneut
Buddes künstlerischem Thema: Schwarz.
Die Materialien und Farben des Innenraums, schwarzes Linoleum auf dem Boden und weißer glatter Putz an
Wänden und Decke erzeugen einen fast kontemplativen Raumcharakter, der durch die sparsame und akzentuierte Möblierung mit einem schwarzen Ledersofa, japanischen Bodensitzmöbeln (Zaisu Tai), einem Bücherregal und einem von Reinhold Budde entworfenen Sideboard unterstrichen wird.
Trotzdem entsteht durch den Bezug zum Panorama aus Kraftwerk und Fluss eine starke Dynamik zwischen dem
beruhigten konzentrierten Innen und bewegten Außen.
Im Gespräch mit Budde kommt schnell das Thema japanische Architektur auf. Architekten wie Tadao Ando,
Toyo Ito oder Sanaa und mit ihnen auch die europäischen Architekten der Moderne, Mies van der Rohe oder
Bruno Taut sind Inspirationsquellen für ihn. In ihren Werken fand er Vorbilder für die Konstruktion,
Materialität aber auch die Einbeziehung des Umfelds, die wesentliche Elemente der japanischen
Bautradition sind. Seine Konsequenz der Raumreduktion, die Raumbildung mit präzise gewählten und
äußerst bewusst gesetzten Materialien korrespondieren aber auch intensiv mit seiner Malerei und
Druckgraphik. "Ich transportiere meine Arbeit in die Dreidimensionalität" ist eine zentrale Aussage
Buddes zu seinem Wohnprojekt - einem ästhetischen Pendant zu seiner malerischen Arbeit.
Wohnformen spiegeln Lebensformen wider. So ist die "Kiste auf dem Dach" nicht nur als Umsetzung einer
individuellen Raumidee zu sehen, sie lässt sich dem Phänomen des "Rooftop Living" zuordnen, das in den
letzten Jahren immer mehr Beispiele hervorgebracht hat. Inspiriert wurde das Thema des Lebens auf dem
Dach von einer verwandten, mittlerweile etablierten, aber einst unangepassten Wohnform: dem Loft.
Sich dem Normierten zu widersetzen oder es zu hinterfragen, ist häufig der Wunsch von Individualisten,
Intellektuellen, Künstlern. Im Bereich des Wohnens bedeutete einer der ersten Aufbrüche zu neuen
Lebensformen das Leben und Arbeiten im Loft. Ursprünglich in den 1940er Jahren in New York aus der
Not der Wohnungsknappheit heraus entstanden, wurden ungenutzte Fabriketagen, da günstig und groß,
gerne von Künstlern als Atelierraum genutzt. Andy Warhols "Factory" war Vorbild für ganze
Künstlergenerationen und erhob das Loft zum Lebensgefühl. Das Loft ist längst zum Sinnbild geworden
für eine Lebensform, die ihren individuellen Freiraum sucht und auslebt. Das "wie wohnen" stellt sich
hier als Aufgabe der Ausdifferenzierung einer fein nuancierten Lebenswelt dar.
Dem "Loft eins aufs Dach setzen", ist fast eine logische Konsequenz. Die Suche nach modularen und
flexiblen Lösungen zur Erweiterung von bereits vorhandenem Wohn- und Arbeitsraum führte in den letzten
Jahren noch zu weiteren, der Budde-Box vergleichbaren Beispielen.
Der Designer Werner Aisslinger hat mit dem durchgestylten "Loftcube" (serienreif seit 2007) in der
Designwelt Aufruhr verursacht. Es handelt sich um einen mobilen Einraum, der sich auf jegliches
statisch tragende Flachdach stellen lässt, äußerst flexibel einsetzbar ist und entweder als
Erweiterungsraum auf einem Dach oder als autonom zu nutzende eigene Wohneinheit zum Einsatz
kommen kann. Der Designer stellt sich vor, den Loftcube per Hubschrauber auf das Hochhausdach eigener
Wahl transportieren zu lassen - als Behausung für den solventen kosmopoliten Großstadtnomaden.
Ähnlich charakteristisch ist das Projekt "Zusatzraum" der Exilhäuser-Architekten (Pfaffing bei München)
aus dem Jahr 2000, die ein Minimalgebäude zur schnellstmöglichen Verfügbarkeit als Satellit neben einem
Haupthaus entwickelten, es gilt als eines der ersten autonomen, flexiblen Wohneinheiten dieser Art.
Das aktuellste Beispiel stammt von MVRDV, einem Rotterdamer Architekturbüro: "Didden Village" in
Rotterdam (2007), bei dem ein kleines "Dorf" auf das Dach einer alten Textilfabrik gebaut wurde. Die
gesamten Aufbauten samt Häuschen, Bodenfläche und der umgebenden Dachbrüstung sind mit einem himmelblauen
Mantel aus Kunststoff überzogen. So entstand ein futuristisch wirkendes Ensemble, das sich extrem vom
darunter liegenden Haus mit roter Backsteinfassade abhebt: "Urbanen Wohnraum verdichten", lautet das
Credo des Architekten Winy Maas." (2)
Formal lässt sich ist Buddebox mit diesen Beispielen vergleichen, sie geht jedoch im konzeptuellen
Ansatz über die rein architektonische Lösung hinaus:
Reinhold Budde hat mit der konsequenten, reduzierten Ästhetik, der Materialität und der Raumkonzentration
der "Kiste auf dem Dach" seine bildnerischen Strukturen in eine eigene Architektursprache übertragen.
So ist es ihm gelungen, einen spezifischen Ort zu schaffen, der eine dynamische Balance zur Umgebung
herstellt und sich als Pol in einem extremen Umfeld positioniert, in dem Spannungsfeld von Innen und
Außen, Dichte und Weite, Fluss , Kraftwerk, Dach und Fabrik.
1) Zu Reinhold Buddes bildnerischem Werk siehe ausführlich Corona Unger: Malerei und Grafik, in:
Reinhold Budde, Hachmannedition, Bremen 2007, S. 4 – 8
2) Winy Maas, zit. nach Christian Tröster, in: Das Dorf auf dem Dach. In: A& W Architektur &
Wohnen, Heft 1/09, Jahreszeiten, Hamburg 2009, S. 82