Kathrin Hager

Die Kiste auf dem Dach

"Kiste auf dem Dach" nennt Reinhold Budde sein außergewöhnliches Haus- und Wohnprojekt - ungewöhnlich zunächst aufgrund der Lage. Der Wohnwürfel befindet sich auf dem Dach der ehemaligen Kaffeerösterei "Ogo" in Bremen-Hastedt, in unmittelbarer Nachbarschaft zum dortigen, den Stadtteil optisch stark dominierenden Kraftwerk.
Form und Lage des Hauses werfen Fragen auf: was bewegte den Künstler Reinhold Budde dazu, eine Wohnbox auf ein Dach zu bauen? Was reizte ihn an diesem prägnanten Ort? Diese Annäherung soll Antworten geben.
Bremens Industrie- und Gewerbegebiete, zu denen das Viertel um die Hastedter Föhrenstraße zählt, waren und sind von Restrukturierungsmaßnahmen betroffen, die nahezu allen Industriegebieten gravierende Umbrüche oder Umnutzungen bescherten, die von Hafenwirtschaft abhängig waren. Typischerweise werden die betroffenen Quartiere zumeist von Pionieren besetzt und besiedelt, die einem speziellen sozialen Milieu angehören: Künstler, Musiker oder Gestalter, insgesamt Vertreter der kreativen Sparten, denen Raum im Umbruch ein idealer Nährboden für ihr kreatives Schaffen darstellt und denen zugleich günstiger Raum willkommen ist. Die Besiedlung oder Restrukturierung nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienender Gebäude, städtischer Areale oder ganzer Stadtteile ist ein Phänomen, das die Metropolen der Industrienationen der postindustriellen Zeit rund um den Globus betrifft. Vor allem die Hafenstädte sind diesen immensen Umbrüchen ausgesetzt, da sie die Dynamiken sich verändernder Märkte besonders deutlich spüren. Sie entwickeln sich häufig als Experimentierfeld für unkonventionelle Wohnformen und experimentelle Architektur. Herausragende Beispiele sind die London-Docklands der 1990er Jahre, der Rotterdamer Hafen oder aktuell auch die Hamburger Speicherstadt.

Die Raumidee

Ursprünglich bot das ehemalige Ogo-Gebäude Reinhold Budde Atelierraum, bis sich mit der Zeit - unter dem Eindruck des besonderen Ortes - der Wunsch verfestigte, dort auch wohnen zu wollen. Aufgrund der Lage des Ateliers im 2. Stock, direkt unter dem Flachdach, war die Idee zur Erweiterung der vorhandenen Fläche um den benötigten Wohnraum schnell geboren: Ein Dachaufbau war die Lösung und stellte zugleich eine gestalterische Herausforderung für den Bauherren dar, die er von da an konsequent verfolgte. Die statischen und vertraglichen Vorraussetzungen für die Erschließung des Daches als Wohn- und Lebensraum waren gegeben und so begann der Planungsprozess. Mit der Idee einer "Kiste auf dem Dach" präzisierte Reinhold Budde sein Konzept zur Erweiterung des Raumes. In dem Architekten Uwe Lamping fand Reinhold Budde den Partner, mit dem er die von ihm konzipierte Idee umsetzen konnte. Vom Sommer bis zum Herbst 2008 dauerte die Bauphase.
Formal handelt es sich um eine Art Wohnbox, einen würfelförmigen eingeschossigen Bau mit Flachdach, der auf dem Dach des in 3 bzw. 4 Stockwerke höhengestaffelten und mit rotem Backstein verblendeten Zweckbaus der 1950er Jahre seinen "Baugrund" gefunden hat. Die Box ist nicht als organischer Baukörper in das vorhandene Gebäude eingegliedert, sondern additiv aufgesetzt und hebt sich von außen betrachtet durch Form und Materialität deutlich von der Umgebung ab. Die Kiste kontrastiert zum dumpfen roten Backstein des Untergebäudes mit der glänzend schwarzen Außenhaut einer Stahlwelle.
Zugang zur Box erhält man durch den darunter liegenden Teil der Atelierwohnung. Als ersten Raum des Buddeschen Wohnensembles betritt man das Atelier, einen großen, durchstrukturierten Arbeitsraum. Vorherrschend ist die Farbe schwarz, das zentrale Thema in Buddes künstlerischem Schaffen (1). Der Fußbodenbelag besteht hier, wie in der ganzen Wohnung durchgängig, aus schwarzem Linoleum. An das Atelier schließen sich die Wohnräume an, fast alle Räume dieser Ebene sind nach Süden gerichtet. Von den Fenstern aus blickt man auf das gegenüberliegende Kraftwerk. Der Weg zur 2. Ebene der Wohnung - zur Box - führt von der sich dem Atelier anschließenden Wohnküche aus über eine Treppe, die durch ihre Einpassung in einen eigenen Treppenraum eine besondere Raumwirkung erzeugt. Dazu trägt zum einen die Materialität bei: geölte Buche, umrahmt von glatt verputzten weißen Wänden und die beeindruckende Raumhöhe des Treppenraumes, der sich über beide Etagen erstreckt und den Blick je nach Standpunkt sowohl von unten nach oben als auch in umgekehrter Richtung stark fokussiert. Zum anderen ist es die minimal von der DIN-Norm abweichende Stufenhöhe und -tiefe, die eine leichte Irritation auslöst. Der Treppenraum ist nicht mittelachsig am oberen Raum ausgerichtet, sodass man sich oben entweder in einen großen Wohnbereich nach links oder einen kleineren Arbeitsbereich nach rechts wenden kann. Beide Bereiche sind offen gehalten, es gibt keine Türen. Der von außen gewonnene Eindruck des Aufgesetzten bzw. Additiven ist hier überhaupt nicht spürbar, das Gegenteil ist der Fall. Der rund 40 qm große Aufbau fügt sich harmonisch und konsequent der Raumorganisation an. Auf dieser Ebene öffnen raumhohe (= 3 Meter hohe) Schiebetürelemente und Fenster den Bau zu einer Holzterrasse in Richtung Süden. Ein wesentlicher Reiz der Box eröffnet sich erst hier: die Aussicht auf die Weser, die in einem großen Bogen am Hastedter Hafen vorbeifließt.
Die Konstruktion des Tragwerks der Box erfolgte in Holzständerbauweise, die mit Isolierschichten im Sandwichverfahren und einer Stahlwelle verkleidet wurde. Mit der Lackierung der Metallelemente der Außenhaut - Stahlwelle, Fenster und Jalousien - im Farbton RAL 9005, tiefschwarz, begegnet man erneut Buddes künstlerischem Thema: Schwarz. Die Materialien und Farben des Innenraums, schwarzes Linoleum auf dem Boden und weißer glatter Putz an Wänden und Decke erzeugen einen fast kontemplativen Raumcharakter, der durch die sparsame und akzentuierte Möblierung mit einem schwarzen Ledersofa, japanischen Bodensitzmöbeln (Zaisu Tai), einem Bücherregal und einem von Reinhold Budde entworfenen Sideboard unterstrichen wird. Trotzdem entsteht durch den Bezug zum Panorama aus Kraftwerk und Fluss eine starke Dynamik zwischen dem beruhigten konzentrierten Innen und bewegten Außen.
Im Gespräch mit Budde kommt schnell das Thema japanische Architektur auf. Architekten wie Tadao Ando, Toyo Ito oder Sanaa und mit ihnen auch die europäischen Architekten der Moderne, Mies van der Rohe oder Bruno Taut sind Inspirationsquellen für ihn. In ihren Werken fand er Vorbilder für die Konstruktion, Materialität aber auch die Einbeziehung des Umfelds, die wesentliche Elemente der japanischen Bautradition sind. Seine Konsequenz der Raumreduktion, die Raumbildung mit präzise gewählten und äußerst bewusst gesetzten Materialien korrespondieren aber auch intensiv mit seiner Malerei und Druckgraphik. "Ich transportiere meine Arbeit in die Dreidimensionalität" ist eine zentrale Aussage Buddes zu seinem Wohnprojekt - einem ästhetischen Pendant zu seiner malerischen Arbeit.

Das Phänomen "Rooftop Living"

Wohnformen spiegeln Lebensformen wider. So ist die "Kiste auf dem Dach" nicht nur als Umsetzung einer individuellen Raumidee zu sehen, sie lässt sich dem Phänomen des "Rooftop Living" zuordnen, das in den letzten Jahren immer mehr Beispiele hervorgebracht hat. Inspiriert wurde das Thema des Lebens auf dem Dach von einer verwandten, mittlerweile etablierten, aber einst unangepassten Wohnform: dem Loft. Sich dem Normierten zu widersetzen oder es zu hinterfragen, ist häufig der Wunsch von Individualisten, Intellektuellen, Künstlern. Im Bereich des Wohnens bedeutete einer der ersten Aufbrüche zu neuen Lebensformen das Leben und Arbeiten im Loft. Ursprünglich in den 1940er Jahren in New York aus der Not der Wohnungsknappheit heraus entstanden, wurden ungenutzte Fabriketagen, da günstig und groß, gerne von Künstlern als Atelierraum genutzt. Andy Warhols "Factory" war Vorbild für ganze Künstlergenerationen und erhob das Loft zum Lebensgefühl. Das Loft ist längst zum Sinnbild geworden für eine Lebensform, die ihren individuellen Freiraum sucht und auslebt. Das "wie wohnen" stellt sich hier als Aufgabe der Ausdifferenzierung einer fein nuancierten Lebenswelt dar.
Dem "Loft eins aufs Dach setzen", ist fast eine logische Konsequenz. Die Suche nach modularen und flexiblen Lösungen zur Erweiterung von bereits vorhandenem Wohn- und Arbeitsraum führte in den letzten Jahren noch zu weiteren, der Budde-Box vergleichbaren Beispielen.
Der Designer Werner Aisslinger hat mit dem durchgestylten "Loftcube" (serienreif seit 2007) in der Designwelt Aufruhr verursacht. Es handelt sich um einen mobilen Einraum, der sich auf jegliches statisch tragende Flachdach stellen lässt, äußerst flexibel einsetzbar ist und entweder als Erweiterungsraum auf einem Dach oder als autonom zu nutzende eigene Wohneinheit zum Einsatz kommen kann. Der Designer stellt sich vor, den Loftcube per Hubschrauber auf das Hochhausdach eigener Wahl transportieren zu lassen - als Behausung für den solventen kosmopoliten Großstadtnomaden. Ähnlich charakteristisch ist das Projekt "Zusatzraum" der Exilhäuser-Architekten (Pfaffing bei München) aus dem Jahr 2000, die ein Minimalgebäude zur schnellstmöglichen Verfügbarkeit als Satellit neben einem Haupthaus entwickelten, es gilt als eines der ersten autonomen, flexiblen Wohneinheiten dieser Art.
Das aktuellste Beispiel stammt von MVRDV, einem Rotterdamer Architekturbüro: "Didden Village" in Rotterdam (2007), bei dem ein kleines "Dorf" auf das Dach einer alten Textilfabrik gebaut wurde. Die gesamten Aufbauten samt Häuschen, Bodenfläche und der umgebenden Dachbrüstung sind mit einem himmelblauen Mantel aus Kunststoff überzogen. So entstand ein futuristisch wirkendes Ensemble, das sich extrem vom darunter liegenden Haus mit roter Backsteinfassade abhebt: "Urbanen Wohnraum verdichten", lautet das Credo des Architekten Winy Maas." (2)
Formal lässt sich ist Buddebox mit diesen Beispielen vergleichen, sie geht jedoch im konzeptuellen Ansatz über die rein architektonische Lösung hinaus: Reinhold Budde hat mit der konsequenten, reduzierten Ästhetik, der Materialität und der Raumkonzentration der "Kiste auf dem Dach" seine bildnerischen Strukturen in eine eigene Architektursprache übertragen. So ist es ihm gelungen, einen spezifischen Ort zu schaffen, der eine dynamische Balance zur Umgebung herstellt und sich als Pol in einem extremen Umfeld positioniert, in dem Spannungsfeld von Innen und Außen, Dichte und Weite, Fluss , Kraftwerk, Dach und Fabrik.

1) Zu Reinhold Buddes bildnerischem Werk siehe ausführlich Corona Unger: Malerei und Grafik, in: Reinhold Budde, Hachmannedition, Bremen 2007, S. 4 – 8
2) Winy Maas, zit. nach Christian Tröster, in: Das Dorf auf dem Dach. In: A& W Architektur & Wohnen, Heft 1/09, Jahreszeiten, Hamburg 2009, S. 82

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REINHOLD BUDDE | TEXTE

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