Ursel Bäumer

Kurzprosa zur Malerei und Graphik Reinhold Buddes

Wenn der Punkt überschritten ist beginnt alles von vorn

ERSTER TAG

Und auf diesen Moment muss man warten können, sagt er, zu wissen,
dass die letzte Schicht aufgebracht ist. Wenn der Punkt überschritten
ist, beginnt alles von vorn.
Ich höre ihm zu. Mache meine Notizen: So wird er vorgehen. Das sind
seine Erklärungen. So und nicht anders sieht seine Arbeit aus. Eine
ganz klare Sache. Und dann geschieht nichts, was darauf zuträfe,
obwohl ich in bester Absicht gekommen bin, in der Meinung, eine Art
Werkstattbericht verfassen zu können.
Ich meine, ich ahne das Ganze, ohne dass ich weiß, wohin es mich
führt, komme immer wieder vom Weg ab.
Unter dem Schwarz ein anderes und darunter viele andere, dann ein
Braun, ein dunkles Ocker. Vordringen zum Resedagelb,
zitronengelbes Leuchten, das durchscheinen soll?
Während des Schauens entwische ich immer wieder, lande auf
irgendeinem Nebenweg, Abweg, Stolperweg.
Schwarzsehen. Schwarze Löcher. Schwarzwald, Schwarzarbeit,
schwarze Magie. Schwarz ist der Tod.
Etwas schiebt sich ständig dazwischen, sodass ich mich
zurechtweisen muss, zurückführen auf den Betrachtungspfad.
Außerdem Kopfschmerzen wegen des Terpentingeruchs in der
Werkstatt, obwohl das Fenster offen steht. Frauen unten im Innenhof,
die sich über den blühenden Jasmin unterhalten. Wie das duftet, höre
ich sie sagen. Und Vogelzwitschern. Und der Lärm des Lastwagens,
der das Restaurant unten im Hof mit Obst und Gemüse beliefert.

Malmittel benutze ich hauptsächlich, damit die Farben besser
trocknen, sagt er. Den Prozess des Trocknens beschleunigen wegen
der Schichten. Manchmal fünfzig, je nachdem.
Er drückt aus einer großen Tube Gelb und Ocker in eine Plastikschale,
gibt Malmittel dazu und rührt mit einem Spatel um.
(Das Schaben auf der geriffelten Struktur des Plastikbodens.)
Konzentriert trägt er die Farbe auf, in gerader Linie von links nach
rechts. Es geht um den Aufbau, die Schichten, die unter der obersten
Fläche aufblitzen, die durchscheinen durch das Schwarz.
Und ich entwische wieder, lande auf irgendeinem Nebenweg.
Schwarz wie die Nacht. Schwarze Löcher. Ursprung. Nichts.
(Aber Schwarz kann warm und fruchtbar sein.)

Mein unscharfer zweiter Blick.
Farbpigmente auf Zweimetervierzig mal Einmeterachtzig.
Beinschwarz aus Knochen, angerührte Knochenkohle, verkohlte
organische Bestandteile, die sich über Rotbraun legen (ein wenig wie
geronnenes Blut). Pigmente aus kleinen Knollen in der Erde,
Bohnerze, die man nach dem Pflügen im Herbst findet, frisch nach
dem Regen, in Erdklumpen. Und die wiederum legen sich auf ein
Gelbbraun. Ockerfarben, warm, fast durchsichtig, dem Grubenwasser
der Braunkohle aus der Lausitz entnommen. Deutsche Siena, unter der
noch ein wenig das kräftige warme Gelb des wilden Safran
durchscheint. Und dann Vordringen zum Zitronenleuchten des
Resedagelbs, zum zarten Blütengelb der Färberdistel oder des
Ginsters. Schichten über Eierschalenweiß vielleicht, ein feines
weiches Pulver, das ein wenig nach Bein oder Zahn riecht.
Fünfzig Häute, fünfzig Gerüche, fünfzig Orte.
Wilder Safran aus Java, rote Harze aus Sumatra, Sandelholz aus
Afrika, die Wurzeln des Färberkrapps aus Mexiko.
Und: Knochenpulver über schwarzen Malvenblüten.

Einige Farben kommen aus Amerika, sagt er, die gibt es hier schon
gar nicht mehr. Zu viele Schadstoffe. Aber sonst decken sie nicht.
Der Farbkatalog aufgeschlagen auf einem Tisch: Lukas Studio.
Bleistiftkreuze an Zitronengelb, Elfenbeinschwarz.
Garantiert hohe Lichtechtheit. Bewährtes Trocknungsverfahren: zwei
bis drei Tage. Eine Spur Bienenwachs. Buttrig.
Durchscheinendes Gelb, Grün, Rot oder Blau unter schwarzer
Außenseite. Endzustand oder Anfang?
Nacheinander die Schichten einreißen, die Oberflächen abziehen.
Häute abkratzen, abschleifen. Häuten bis auf die unterste Schicht.

Ich meine, ich ahne das Ganze, ohne dass ich weiß, wohin es mich
führt, komme immer wieder vom Weg ab. Ginstergelb verbindet sich
mit Sommergerüchen, Blau mit Eis, Gletschern, Winter, Ruhe
(quiescence). Grün mit dem Entstehen (Chlorophyll im Blattgrün),
mit Frühling, Schöpfung (creation). Rot mit Herbst, Zerstörung
(destruction). The Seasons von John Cage, nicht wahr?
Farben für Blütezeiten, Wonnemonate, Rosenzeiten, Erntezeiten,
Weinmonate und die heiligen zwölf Nächte. Farben für den Kreislauf.

Wenn der Punkt überschritten ist, beginnt es wieder von vorn, sagt er.
Und in Nuancen ist es doch immer wieder anders.
Vielleicht ein bisschen wie ein Garten.
Er erfordert Beschäftigung, Sorgfalt, geschärfte Aufmerksamkeit.
Und Zeit. Man muss ihn sich erobern, sagt er.

Mich selbst an die Hand nehmen, eine Art wohlgefälliger Verehrung
und Aufmerksamkeit: Erkundungen am Leinwandrand.
Ich kratze an den Farbresten, die mir etwas von den Schichten
verraten sollen. Feuchtes Gelb an meinem Daumennagel, obwohl das
Bild schon seit Jahren hier hängt. Fünfzig Häute übereinander und
unter der Oberfläche immer noch feucht. Vor allem das Braun braucht lange,
sagt er. Überhaupt, die Erdtöne trocknen schlecht.
Und wenn sich Bläschen bilden: Sofort schleifen! Fehler bauen sich
mit jeder Schicht mehr auf. Es ist ein ständiger Kampf: Ich möchte
diktieren, aber die Farben reagieren anders.

Äußerste Reduktion.
Jeder Pinselstrich Abbild einer Körperbewegung. Einundzwanzig
Längsbahnen auf Zweimetervierzig mal Einmeterachtzig vom oberen
Rand bis in die Knie.
Sein Duktus. Das ist etwas Unverwechselbares. Etwas von ihm.
Sonst eher versteckt.

ZWEITER TAG

Ich ahne das Ganze, ohne dass ich weiß, wohin es mich führt, ich weiß
nicht genau, komme immer wieder vom Weg ab.
Wie ein Hinübergleiten, nicht Hinhören, wenn man zurückgerufen
wird. Einfach nicht darauf achten, sich taub stellen und dann
Geschichten wiederfinden, die man vergessen hat. Da, wo man es gar
nicht erwartet: Wie die Geschichte des Mannes, der allein in einer
Stadt unterwegs ist. Der planlos über einen Kiesweg an einem
schmiedeeisernen Zaun mit dichter Hecke entlang läuft und einen
Passanten fragt, wohin er gelange, wenn er den Weg weitergehe und
erfährt, dass er unterwegs zu einem Schloss sei. Und der glaubt, als er
ein schlichtes Holzschild sieht, dessen Schrift er nicht entziffern kann,
dass es ein Wegweiser zum Schloss sei. Er kommt jedoch nur an ein
Tor, hinter dem breite Treppen auf ein tiefer gelegenes Plateau führen.
Er wird neugierig. Das Tor steht offen und er geht die Stufen hinunter.
Und so ein wenig wie Märchenerzählen: Denn er gelangt in einen
Garten, in dem er plötzlich gar nichts mehr hört. Keine Stimmen.
Keinen Straßenlärm. Auch das Ticken der Uhren nicht.
Der Garten ist von weichen Sandwegen durchzogen. In der Mitte,
am tiefsten Punkt ein See, umgeben von riesigen roten und gelben
Blumenhüllen. Leuchtende Blüten vor dunklem Büschegrün. Und je
tiefer er gelangt, desto stiller wird es und kühl. Und es riecht süßlich,
wie Vanilleeis. Am Ufer des Sees bleibt er stehen, unter einer
übergroßen Eberesche, voller roter Früchte. Ihre Zweige breiten sich
ruhig über ihm aus.

Als er die Treppen wieder hinaufgeht, sieht er Gärtner mit Motorsägen
Löcher in die Hecke schneiden. Und einer schreit ihn durch den Lärm
der Sägen hindurch an. Wie er in den Garten gekommen sei. Die
Pforte sei doch verschlossen gewesen, er sähe doch, dass hier
gearbeitet würde.
Und dann wird hinter ihm abgesperrt.

DRITTER TAG

Eine schwarze Fläche mit gespiegeltem Fenster (und
Leuchtstoffröhren von der Decke) und kleinen kaum merklichen Eigen-
bewegungen. Beim Berühren ein leises Zittern, Klopfen.
Ein wenig wie eine große schwarze Membran.
Haut mit verschiedenen Siegeln:
Völlig undurchlässig.
Teilweise undurchlässig.
In einer Richtung durchlässig.
Völlig durchlässig.

Schwingungserzeuger.

Und wenn die Sonne durchs Fenster scheint, sieht man die roten
Backsteine von den Häusern auf dem Bild, und Blumenkübel und
Gartenstühle von den Balkonen, und hört Frauen, die sich über den
blühenden Jasmin unterhalten: Wie das duftet. Und Vogelzwitschern
und Kinderstimmen und die durchdringende Sologeige aus dem
Tonstudio.

Auszug aus: Ursel Bäumer, Wenn der Punkt überschritten ist beginnt alles von vorn.
In: Reinhold Budde, Hachmanneditionen, Bremen 2007
Hörprobe auf www.ursel-baeumer.de

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REINHOLD BUDDE | TEXTE

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